Smart Chem: Wie die Chemie-Industrie ungenutzte Datenpotenziale ausschöpft
Die Prozessindustrie hat im Vergleich zu endkundennahen Branchen andere Herausforderungen und vermehrt unausgeschöpfte Potenziale beim Einsatz von Data Analytics. Mit einer zunehmenden Digitalisierung der der zentralen Geschäftsprozesse und dem Druck zur stärkeren Ausrichtung auf den Endkunden könnte sich das bald ändern. Wir zeigen, was Unternehmen auf dem Weg dorthin beachten sollten.
Bei der Entwicklung neuer Rezepturen und Anwenderlösungen setzt die Chemie-Industrie bereits heute immer häufiger auf modernste Daten- und KI-Technologie: So nutzt etwa ein deutscher Spezialchemiehersteller eine Software, um auf Basis von bestehenden Rezepturen und Rohstoffinformationen die Entwicklungszeit für Kunststoffe zu verkürzen. Auch ein anderes Unternehmen der Branche arbeitet bereits seit Längerem mit IBM zusammen an der Erforschung von Hochleistungs-Polymeren mithilfe von KI.
Geht es jedoch um die Analyse von Daten entlang der eigenen Wertschöpfungskette, besteht in der Branche eine große Unsicherheit welche Daten wertschöpfend nutzbar sind. Dabei schlummern gerade hier enorme Potenziale für Prozessoptimierungen und Kosteneinsparungen. Gerade vor dem Hintergrund aktueller Herausforderungen in der Chemie-Industrie durch unterbrochene Lieferketten und steigende Energiepreise gewinnt die Auswertung von Daten zur Verbesserung der Geschäftsprozesse immer mehr an Bedeutung.
Strukturelle Defizite verhindern effektive Datennutzung
Die Gründe für die bislang zurückhaltende Nutzung vorhandener Daten im Unternehmen sind vielfältig: Zum einen sorgen strukturelle Hindernisse, wie etwa bestehende Datensilos zwischen Abteilungen, eine fehlende, übergeordnete Datenarchitektur oder die schleppende Cloudanbindung aus Furcht vor dem Verlust von geistigem Eigentum dafür, dass Daten weder unternehmensweit zur Verfügung stehen noch nutzbar gemacht werden können. Zum anderen fehlt oft das Verständnis darüber, welche Daten im Unternehmen anfallen und bereits existieren, was ein Datensatz ist, und wofür er eingesetzt werden kann. Und schließlich leidet auch die Chemie-Industrie unter dem Mangel an IT-Fachkräften, wodurch sich geplante Projekte immer weiter verzögern.
Vielfältige Einsatzpotenziale
Demgegenüber stehen vielfältige Einsatzfelder, in denen Data Science-Projekte in der Chemie-Industrie heute bereits messbare Mehrwerte liefern. Das betrifft zum einen klassische Prozessverbesserung im Operations-Umfeld, etwa durch die Reduzierung von Rüstzeiten oder eine höhere Gesamtanlageneffizienz (Overall Equipment Effectiveness) sowie Datenauswertungen für optimierte Planungs- und Forecast-Prozesse und eine bessere Entscheidungsfindung in den indirekten Bereichen.
Zum anderen geht es in der Chemie-Industrie – getrieben durch eine zunehmende Digitalisierung der Vertriebswege und eine stärkere Endkundenorientierung – immer häufiger um die Ausrichtung des eigenen Angebots an dynamischen Kundenwünschen sowie eine Optimierung der Kundeninteraktion und Erhöhung der Servicequalität. Denn häufig entscheidet der Kundenservice als letzte Instanz in der digitalen Customer Journey darüber, ob ein Kundenerlebnis positiv oder negativ wahrgenommen wird. Kurz gesagt: Kundenerlebnisse (Customer Experience) rücken immer mehr in den Fokus. Auch hier können Data Science-Projekte in Kombination mit Experience Management dabei helfen, die Bedürfnisse der unterschiedlichen Zielgruppen besser zu verstehen und darauf zu reagieren.
Datenverständnis als Voraussetzung
Um diese Mehrwerte zu realisieren, ist zunächst notwendig, zu verstehen, welche Daten dafür betrachtet werden müssen und wie hoch ihre Aussagekraft ist. Dabei sollte zwischen sogenannten O- und X-Daten unterschieden werden. O-Daten, oder operative Daten, beschreiben dabei alle Arten von Daten, die aus objektiven, beobachtbaren und messbaren Prozessen und Systemen gewonnen werden können, etwa von Maschinen generierte oder beim Bestellprozess anfallende Informationen. Dazu gehören neben Produktionskennzahlen beispielsweise MES- oder ERP-Daten ebenso wie CRM-Daten oder Zugriffszahlen auf bestimmte Websites.
X- bzw. Experience Daten hingegen repräsentieren Absichten, Haltungen oder andere subjektive Empfindungen, die nicht objektiv beobachtbar sind. Das umfasst beispielsweise Metriken wie Kundenzufriedenheit (Customer Satisfaction Score), Weiterempfehlungsraten (Net Promoter Score) oder Ähnliche.
Gewinnbringende Kombinationen von Datentypen
Zwar kann jeder Datentyp für sich genommen wertvolle Einblicke liefern, doch das wahre Potenzial liegt in der Fähigkeit, O- und X-Daten zu kombinieren, um noch umfassendere und aussagekräftigere Erkenntnisse zu gewinnen. So können beispielsweise Auffälligkeiten in den operativen Daten durch zusätzliche Informationen aus einer Kundenbefragung erklärt werden et vice versa. Daneben lassen sich beispielsweise auch die Auswirkungen bestimmter Produktionsparameter auf das Verhalten von Kunden voraussagen.
Vereinfacht ausgedrückt: Ein Datentyp für sich allein zeigt nur, dass etwas passiert. Erst durch die Kombination unterschiedlicher Datentypen wird ersichtlich, warum etwas passiert. Wenn beispielsweise Kunden eine bestimmte Produktkonfiguration auswählen, den Kauf dann aber nicht abschließen, können Experience Daten dabei helfen, die Gründe dafür zu identifizieren.
Beispiel: Sample-Prozess in der Chemie-Industrie
Ein typisches Prozess-Beispiel aus der Chemie-Industrie, wo diese Kombination aus O- und X-Daten eingesetzt werden kann, um Prozessverbesserungen zu realisieren, ist die Herstellung von Samples in der chemischen Industrie. Hier können Stoffeigenschaften bzw. Daten aus dem Herstellprozess, wie etwa Viskosität oder Verarbeitungstemperaturen aus einzelnen Chargen mit dem Feedback von Kunden abgeglichen werden, um die Produktqualität nachhaltig zu optimieren. Lagen diese Kundenrückmeldungen bislang unstrukturiert vor und mussten manuell aggregiert werden, können diese nun durch den Einsatz von Experience Management Plattformen systematisch erfasst und mit operativen Daten in Beziehung gesetzt werden.
Iteratives Vorgehen
Aufgrund der Vielfalt an möglichen Datenquellen und damit verbundenen Aussagedimensionen, ist es für den Erfolg von Data Science- bzw. Data Analytics-Initiativen essenziell, zu Beginn des Projekts die Fragestellung genau zu beschreiben, welche anhand der Daten beantwortet werden soll. In einem gemeinsamen Workshop mit dem Auftraggeber gilt es dabei v.a. die Art des gewünschten Ergebnisses im Sinne einer Prozessverbesserung, herauszuarbeiten, anstatt Problemstellungen zu formulieren. Denn oft liegen die Ursachen für bestimmte Abweichungen oder Auffälligkeiten anderswo als ursprünglich angenommen. Ein agnostisches Vorgehen ist daher besonders erfolgskritisch.
Ausgehend von dieser Fragestellung formulieren Data Scientists gemeinsam mit Domänenexperten, die das notwendige fachliche Know-how einbringen, Hypothesen und testen diese anhand der ihnen zur Verfügung stehenden Daten. Dazu ziehen sie verschiedene Datenquellen heran und prüfen in einem iterativen Vorgehen mögliche Einflussfaktoren und deren Auswirkungen auf die Zieldimensionen.
Ergebnis: Datengestützte Handlungsempfehlungen
Auf diese Weise lassen sich verschiedene Erkenntnisse zur untersuchten Fragestellung gewinnen, aus denen konkrete Handlungsempfehlungen abgeleitet werden können. Das reicht von der Identifizierung von Problemursachen in Prozessen und möglichen Gegenmaßnahmen, über Voraussagen für die Zukunft bis hin zur Gestaltung von personalisierten Kunden- oder Mitarbeiter-Erlebnissen.
Neben datengestützten Handlungsempfehlungen liefern Data Science-Projekte dabei typischerweise auch quantitative Aussagen zu den finanziellen Auswirkungen der identifizierten Probleme bzw. deren Gegenmaßnahmen. Sie helfen dabei, auf Management-Ebene die notwendige Dringlichkeit für die avisierten Maßnahmen zu erzeugen.
Fazit: Start smart
Der Einsatz von Data Analytics in der Chemie-Industrie birgt enorme Potenziale für Prozessverbesserungen, Kosteneinsparungen und eine höhere Servicequalität. Aktuelle Entwicklungen in der Branche, wie die zunehmende Digitalisierung der Vertriebswege, eine stärke Ausrichtung an den Endkunden und zuletzt v.a. resilientere Planungs- und Lieferkettenprozesse sind wichtige Treiber, die den Bedarf nach datengestützten Analysen befeuern.
Auf dem Weg dorthin haben die meisten Unternehmen der Branche noch einige Meilensteine vor sich. Vor allem eine umfassende Datenstrategie bzw. Datenarchitektur, zur systematischen Bereitstellung und Nutzbarmachung der vorhandenen Datenschätze fehlt in den meisten Organisationen heute noch.
Aber auch unabhängig davon lassen sich bereits heute nach dem Motto „Start fast, start smart“ mit fokussierten Einzelinitiativen signifikante Mehrwerte für das eigene Business erzielen.